Ist Tellkamps „Der Schlaf in den Uhren“ unlesbar? – Ein Plädoyer für das Buch und die Literatur

Wenige Bücher erregten und erregen gegenwärtig mehr Aufsehen als „Der Schlaf in den Uhren“ von Uwe Tellkamp. Dabei fällt auf, dass die vorherrschende Meinung in den Feuilletons und der Literaturkritik alles andere als positiv ist; wird das Buch doch teilweise als unlesbar bezeichnet, als wohl kaum lektoriert sowie verschwurbelt und somit völlig aus der Zeit gefallen.

Blickt man auf das Jahr 2008 zurück, in dem Uwe Tellkamp mit dem vielgelobten Bildungsroman „Der Turm“ nach übereinstimmender Meinung ein literarisches Meisterwerk gelungen war, wundert es umso mehr, dass einem Schriftsteller, dem damals attestiert wurde, er habe ein atemberaubendes Meisterwerk geschrieben und mehr habe kein deutscher Autor je gewagt, innerhalb von nur etwas mehr als zehn Jahren die Feder völlig eingetrocknet zu sein scheint.

Ist das tatsächlich so? Oder könnte mehr dahinter stecken, als dass allein der Text des neuen Romans einigen unlesbar erscheint? Der Rezensent, der diese Zeilen schreibt, skizziert sich selbst als dem Skeptizismus zugetan. Und diese Haltung geht grundlegend damit einher, sich nach Möglichkeit selbst ein Bild zu machen und kein Urteil blind aus zweiter Hand zu übernehmen sondern mutig und unbeirrt die neunhundert Romanseiten zu lesen. Gesagt, getan.

Vorab: Das Buch ist weder unlesbar noch eine literarische Tragödie aber es fordert von seiner Leserschaft Mut – auf einigen Ebenen. Aber der Reihe nach.
„Der Schlaf in den Uhren“ wird bereits auf dem Schutzumschlag als Fortschreibung des Romans „Der Turm“ bezeichnet. Diese Bemerkung erscheint mir substantiell, denn ohne die Kenntnis der im Turm handelnden Protagonisten und ohne diese typische Turm-Stimmung bereits zu kennen, hätte mir die Lektüre des neuen Romans wahrscheinlich deutlich mehr Mühe bereitet. Ganz grundlegend kehren nämlich einige der Turm-Personen auch im neuen Roman zurück, allerdings häufig im kleineren Rahmen oder in Nebenhandlungen, also mit anderer Wertigkeit als im Turm.

Womit zweitens das größte Verständnisproblem des Buches einhergehen dürfte. Im Gegensatz zu der eher linear verlaufenden Turm-Handlung zeichnet sich „Der Schlaf in den Uhren“ ganz besonders dadurch aus, dass zwischen völlig unterschiedlichen Zeitebenen gefühlt wild gewechselt wird und sich dadurch ein eher kontinuierlicher Lesefluss nicht einstellen will. Gelingt es einem aber, diese unterschiedlichen Ebenen als separate Romanbestandteile zu lesen, so wird man in den einzelnen Fragmenten Erstaunliches zutage fördern. Dem Text gelingt es nämlich, ein fein ziseliertes Bild der Stimmungslage vom Beginn der politischen Wende Ende der achtziger Jahre bis in das Jahr 2015 zu zeichnen. Dass dies mit und aus einem vorwiegend ostdeutschen Blick geschieht, darf man Uwe Tellkamp nicht anlasten; aus welchem anderen Blickwinkel hätte er sonst schreiben sollen? In der ZDF-Sendung „Literarisches Quartett“ vom Mai 2022 wird auch dieses Buch besprochen. Jakob Augstein bringt es m. E. auf den Punkt, wenn er das Buch mit einem riesigen Zettelkasten vergleicht, dessen Inhalt sich aus einzelnen und vermeintlich wenig zusammenhängenden Passagen zusammensetzt. Er empfiehlt, das Buch einfach nicht linear von vorn nach hinten zu lesen, sondern sich einzelner Episoden anzunehmen. Der Rezensent darf an dieser Stelle anmerken, dass er genau zu dieser Methode gegriffen hat, bevor er sich dem Buch dann doch ganz linear von vorn nach hinten gewidmet hat.

Noch ein paar Sätze zu dem Vorwurf, Tellkamp hätte sich durch Meinungsäußerungen vor allem in der Asyldebatte in ein gesellschaftliches Abseits begeben und dies wiederum würde man durch Verschwurbelung der geschilderten gesellschaftlichen Realität im neuen Buch auch spüren. Gut, es ist durchaus möglich, dass die im Roman aufgezeigten Tendenzen, es gäbe zum Beispiel bei den Medien den „verordneten Mainstream“, weit hergeholt scheinen. Gelten lassen sollte man aber in diesem Fall auch, dass es sich bei dem Buch um Literatur handelt. Und Literatur sollte es unbenommen erlaubt sein, Visionen auch bis ins schmerzhaft Groteske zu treiben. Wenn Literatur allein dafür gerügt würde, wäre das wahrlich ein trauriges Kapitel unseres Verständnisses von Kunst und Kultur.

George Orwell hat die Niederschrift des Romans „1984“ im Jahr 1948 beendet. Aus der Sicht des Jahres 1948 sind in diesem Buch Dinge beschrieben, die Jahrzehnte später zum Teil Wirklichkeit geworden sind. Bleibt zu hoffen, dass dies dem Inhalt des neuen Tellkamp-Romans erspart bleibt. Auf Uwe Tellkamp gemünzt könnte das Fazit demzufolge lauten, dass man ihm in seiner Meinung zu gesellschaftlichen Problemen nicht unbedingt folgen muss; man sollte aber aus diesen Meinungen auch nicht wohlfeil schließen, dass er nun das Schreiben vollends verlernt hätte.

nach oben